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Botho Strauß
SCHÄNDUNG

Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare
Premiere: 13. Oktober 2007, Stadthalle (Erwin-Piscator-Haus)

Fotos link

Besetzung:
Inszenierung -
Ausstattung -
Dramaturgie -
Videoproduktion -

Inspizienz -
Regieassistenz -
Soufflage -
David Gerlach
Andreas Rank
Jürgen Sachs
David Gerlach

Ito Grabosch
Felicia Daniel / Iris Merkel
Kerstin Reinsberg
SCHÄNDUNG

Darsteller:
SATURNIN, ältester Sohn des verstorbenen Kaisers - Sascha Oliver Bauer | BASSIAN, sein Bruder - Bastian Michael | TITUS ANDRONICUS, General - Thomas Streibig | LAVINIA, seine Tochter - Franziska Knetsch | TAMORA, Königin der Goten - Uta Eisold | AARON, ihr Liebhaber, ein Mohr - Jochen Nötzelmann a.G. | DEMETRIUS Tamoras Söhne - Nicolas Deutscher | CHIRON - Matthias Zeeb | MONICA / REGISSEURIN / PROBANDIN / EINE JUNGE MUTTER / HEBAMME - Ulrike Knobloch | DER KNABE LUKAS / MUTIUS - Daniel Sempf | AUSRUFER - Nicolas Deutscher | ERSTER SOLDAT - Bastian Michael | ZWEITER SOLDAT - Nicolas Deutscher | ERMITTLER - Bastian Michael | ALARBUS - Kai Hofmann | KLEINDARSTELLER - Lukas Geiler, Kai Hofmann, Martin Janczak, Rosario Petrungaro, Ludger Rößner, Harald Schmidt, Frank Wagner

Spieldauer ca. 2 Std., 30 Min., eine Pause


Stück:

„Wozu halte ich noch mein Schwert? Ich habe genug gefochten für das verdammte Rom. Ich geh und hol die Axt...“

Der römische Feldherr Titus Andronicus kehrt als Held aus der siegreichen Schlacht gegen die Goten nach Hause zurück. Der neue Kaiser Saturnius nimmt die gefangene Gotenkönigin Tamora zur Frau, die ihrerseits Titus Andronicus Rache geschworen hat, weil er ihren ältesten Sohn als Totenopfer für seinen eigenen gefallenen Sohn zerstückelt und verbrannt hatte. Mit Hilfe ihres schwarzen Geliebten Aaron verfolgt Tamora einen grausamen Plan: Lavinia, die einzige Tochter des Titus, wird von Tamoras Söhnen vergewaltigt und verstümmelt, ihr Verlobter Bassanius ermordet. Auf Rache folgt nun Vergeltung und auf Vergeltung wieder Rache...


Pressestimmen:

Oberhessische Presse

Erst Beklemmung, dann Befreiung

Marburg. „Was ihr wollt“ hat das Zeug zum Spielzeit-Hit. Mit der Shakespeare-Komödie setzte das Landestheater bei der Doppelpremiere am Samstag den Kontrapunkt zur Tragödie „Schändung“.

von Gabriele Neumann

Das Anfangsbild erinnert fatal an Guantanamo. Da stehen die Gefangenen in orangfarbenen Overalls am hinteren Ende der schiefen Ebene, das Bühnenbild (Andreas Rank) lässt kalte Schlachthof-Atmosphäre aufkommen, General Titus Andronicus (Thomas Streibig) übt Siegerjustiz.

Der Sohn der Gotenkönigin Tamora (Uta Eisold) wird dem römischen Brauch folgend, geopfert. Er wird im Verlauf der nächsten zweieinhalb Stunden nicht das einzige und längst nicht das blutigste Opfer bleiben. Doch Regisseur David Gerlach geht es nicht, zumindest nicht nur, ums Blut. Er arbeitet aus Botho Strauß’ „Schändung“ vor allem die Sinnlosigkeit der Bluttaten heraus. Jeder übt Rache für alles. Die Gotenkönigin rächt sich für ihren ermordeten Sohn, auch indem sie ihre beiden verbliebenen Söhne zur Schändung Lavinias ermuntert, die die Vergewaltigung überlebt, ihrer Hände und ihrer Zunge beraubt.

Da vergeht manchem im Saal kurz vor der Pause schon einmal der Appetit auf den Shakespeare-Teller, der die Zuschauer für den zweiten Teil des Abends stärken soll.

Titus sinnt auf Rache für seine geschändete Tochter und versteht doch nicht, was diese noch am Leben hält. Großartig verleiht Thomas Streibig dem General das Verlorene, das Unverständnis gegenüber den modernen Verhältnissen. Doch auch die Erschaffer dieser Verhältnisse geraten in die Mühlräder ihrer eigenen Taten. Saturnin, lässig-lasziv von Sascha Oliver Bauer in seiner ersten Rolle am Landestheater gegeben, macht sich als neuer Kaiser wenig Gedanken über Rom, und auch den anderen Figuren fehlt es an Weitblick.

Dem neuen Oberspielleiter Gerlach hingegen gelingt es in der großen Produktion mit 14 Darstellern, das Thema Rache nicht aus dem Blick zu verlieren. Die eingespielten Video-Sequenzen, in denen die Darsteller aus der Rolle treten, um in Alltagsszenen Sinn und Absicht der Inszenierung zu erklären, wären dazu gar nicht nötig gewesen. Das Publikum honorierte die moderne Inszenierung mit lang anhaltendem Applaus.





Marburg News

Schändung: Gewaltiges Plädoyer gegen Gewalt

Marburg * (fjh)

Bestialische Gewalt erschütterte das Premierenpublikum am Samstag (13. Oktober) im Erwin-Piscator-Haus (EPH). "Schändung" von Botho Strauß bewegte, irritierte und begeisterte zuletzt die gut 400 Gäste in der Stadthalle. Das Stück von Botho Strauß geht zurück auf "Titus Andronicus" von William Shakespeare. Der römische Feldherr Titus Andronicus (Thomas Streibig) kehrt aus einer Schlacht heim. Die Volkstribunen tragen ihm - vermittelt durch seine Tochter Lavinia (Franziska Knetsch) - an, sich zur Kaiser-Wahl zu stellen. Doch er spricht sich für den ältesten Sohn des verstorbenen Herrschers als neuen Kaiser aus. Dafür entlohnt Saturnin (Sascha Oliver Bauer) ihn mit dem Versprechen, Lavinia zur Frau zu nehmen. Als Kaiserin würde sie sich mit Saturnin die Herrschaft über Rom teilen. Doch Saturnins Bruder Bassian (Bastian Michael) erhebt ältere Ansprüche auf Lavinia. Er entführt die Tochter des Feldherrn. Schon lange hatten sich beide Treue geschworen. Saturnin hingegen reagiert auf diese Entführung zunächst ganz cool: Er vermählt sich stattdessen mit Tamora (Uta Eisold). Die gothische Königin hatte Titus als Sklavin aus seinem letzten Feldzug mit nach Rom gebracht. Tamoras erstgeborenen Sohn hatte Titus den Göttern geopfert. Er glaubt an die alten Regeln und Riten. Tamora aber schwört Rache. Sie gibt sich dem Kaiser hin und berät ihn. Den Ruhm einer römischen Kaiserin genießt sie sichtlich. Sexuell ist sie aber nicht ausgelastet. Mit dem Mohren Aaron (Jochen Nötzelmann)treibt sie es heimlich. Doch Bassian und Lavinia beobachten das lüsterne Treiben. Bassian geht zu seinem Bruder, um ihn über dieses Doppel-Leben seiner Frau zu informieren. Tamora aber verdreht die Tatsachen so geschickt, dass Bassian bald als Lüstling dasteht, der es auf sie abgesehen habe. Tamoras Söhne Demetrius (Nicolas Deutscher) und Chiron (Matthias Zeeb) bringen ihn deswegen um. Beide vergewaltigen danach Lavinia. Sie schneiden ihr die Hände und die Zunge ab und verstümmeln sie so bestialisch. Titus Andronicus wiederum sinnt nun auf Rache. Er hat Aaron im Verdacht, Lavinia vergewaltigt und verstümmelt zu haben. Inzwischen hat die Kaiserin einen Sohn geboren. Doch die Haut des Säuglings ist schwarz wie die Aarons. Um sich diese Schande zu ersparen, will Tamora ihr eigenes Kind umbringen. Doch Aaron hindert sie daran. Als Titus ihn und seinen Sohn umzubringen droht, bittet er um Gnade für das Baby. Dafür berichtet er Titus von den wahren Vorgängen. Am Ende zeigt sich ganz deutlich, dass Gewalt keine Lösung sein kann. Ebenso deutlich arbeitet die Inszenierung von David Gerlach heraus, dass Gewalt in allen Menschen und in jeder Gesellschaft steckt. Macht und vor allem ihr Missbrauch verstärken den Hang zur Gewalt noch deutlich. Aktueller als die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema könnte kaum ein Theaterstück sein. Doch provoziert und schockiert das Stück mehrfach auf brutale Weise. Blut fließt. Abscheuliche Gewalt wird nicht ausgeklammert. In einigen Szenen blieb dem Premieren-Publikum buchstäblich der Atem im Halse stecken. Vielleicht ist es ja nötig, die alltägliche Abstumpfung der Menschen gegenüber der Gewalt im Fernsehen, in den Nachrichten oder in Kriminalgeschichten durch derart schockierende Darstellungen von Gewalt aufzuknacken. Sicherlich ist die Inszenierung dadurch aber für feinfühligere Gemüter eher abstoßend. Dennoch hat Gerlach versucht, diese Brutalität mit filmischen Einblendungen, musikalischer Untermalung und heiteren Szenen ein wenig abzumildern. So steht am Anfang vor der eigentlichen Handlung ein Marktschreier auf der Bühne, der die Siedlung "Terra Secura" anpreist. Dort herrsche Sicherheit. Auch unschön geformte Menschen bekomme man dort nicht zu Gesicht. Eine Mutter stellt ihren Sohn vor der Bühne ab. "Bleib nur ja hier", ermahnt sie ihn. "Lass Dich nicht ansprechen und misch Dich nicht ein!" Am Ende des Stücks ist klar, dass es in einer gewalttätigen Gesellschaft völlig unmöglich ist, sich nicht einzumischen. Mit lautem und langanhaltendem Applaus bedankten sich die Zuschauer bei den hervorragenden Schauspielern nach zweieinhalb Stunden "Schändung" für ihre Leistungen. Besonders Uta Eisold als Tamora hat ihre Rolle ausgezeichnet verkörpert. Doch auch alle anderen Darsteller brauchten sich nicht zu verstecken. Schwächer besaitete Gemüter sollten diese Inszenierung aber vielleicht besser meiden. All denjenigen, denen die alltägliche Gewalt aber zur Gewohnheit zu werden droht, könnte dieses Stück einen Anstoß zur Umkehr bieten.





Marburger Forum

Schändung von Botho Strauß nach der Tragödie Titus Andronicus von William Shakespeare

Was Ihr wollt von William Shakespeare in der Übersetzung von Thomas Brasch

Premiere beider Stücke: 13. Oktober 2007 (Stadthalle)

Das Ende des Stücks Was Ihr wollt und das Ende eines fesselnden Skakespeareabends nach fast sechs Stunden kurz vor Mitternacht in der Marburger Stadthalle: Der Narr schreitet langsam über die sich verdunkelnde Bühne zum vorderen Bühnenrand und singt sein Lied vom kurzen Leben des Menschen, von der Kinder- und Jugendzeit, der Zeit der Gemeinsamkeit mit einer Frau, dem Alter, und jede seiner Liedstrophen endet mit den berühmten Zeilen: „Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag“, Zeilen voller Melancholie und Vergeblichkeit und einer Art „heiterer Traurigkeit“. Und während der letzte Scheinwerferkegel den Narren noch einmal für wenige Augenblicke vom Dunkel der übrigen Bühne abhebt, verklingen die Schlussverse (hier in der Version von Frank Günther): „Die Welt geht rund, und sie macht sich nicht draus, / Mit hei, ho, bei Regen und Wind, / Ist eh alles eins, und das Stück ist nun aus, / Und wir wolln euch erfreuen an jedwedem Tag.“

„A great while ago the world begun […] But that’s all one” – „Die Welt geht rund und sie macht sich nichts draus, […] Ist eh alles eins“: Diese Schlusszeilen können als Motto für die Inszenierung von Was Ihr wollt, aber auch von Titus Andronicus in der Straußschen Version Schändung stehen. Die Welt, so Shakespeare mit seinen beiden Stücken, besteht aus Schrecklichem und Komischem, aus Verbrechen und Liebestollheiten, Blutvergießen und Umarmungen, blutverschmierten Körpern und lächerlich-„liebesbunt“ gekleideten Männern, blutrünstigen und rachelüsternen Männern und Frauen und solchen, die sich nach Liebe sehnen und mit Liebe spielen – „But that´s all one“: Einen großen Unterschied, vielleicht ist das Shakespeares „Botschaft“ an diesem Abend, macht all das nicht und verändern kann man schon längst nichts mehr.

So war es auch nur folgerichtig, dass sich beides, die Tragödie wie die Komödie, auf ein und derselben Bühne, von Andreas Rank eingerichtet, abspielte: einem kastenförmigen Bau mit zwei hohen Wänden links und hinten und einem ansteigenden Bühnenboden, der mit einer Spitze bedrohlich in die ersten Zuschauerreihen hineinragte, und auf dem Theater gezeigt wurde, das nicht unterschiedlicher hätte sein können: Theater als die „Welt“, und „die macht sich nichts draus“.

Titus Andronicus, einer der frühen Texte Shakespeares, handelt von Verbrechen und Schandtaten, die, das wird gelegentlich kritisiert, nicht immer ganz plausibel entwickelt werden und das Stück in die Nähe einer Horror- und Schauertragödie rücken. Gerade das scheint Botho Strauß gereizt und dazu veranlasst zu haben, eine eigene Version des Textes zu erarbeiten, die 2006 am Berliner Ensemble uraufgeführt wurde. Strauß verändert die Geschichte um den römischen Helden Titus Andronicus nicht grundsätzlich, gibt aber den Figuren ein größeres Eigenleben und lässt sie in einem Metatext über sich selbst und ihre Rolle im Stück sprechen und nachdenken. Das führt zu Brechtschen Brechungen des Handlungszusammenhangs, die die Zuschauer zu distanzierten Beobachtern einer schier unzumutbaren Menschenabschlachterei auf der Bühne machen.

Titus Andronicus ist der römische Held schlechthin. Vierzig Jahre schon hat er für Rom Siege erkämpft und wieder einmal kehrt er ruhmreich aus einer Schlacht zurück. Der Preis, den er für seinen Kriegstriumph zu zahlen hat, ist allerdings hoch. Fast alle seiner Söhne hat er in den Schlachten verloren. Jetzt sollen die gefangenen Söhne der Gotenkönigin Tamora gemäß den heiligen Traditionen – „Unsere Frommheit ist es, die das Opfer fordert“ – den Göttern geopfert werden. Titus lässt den Ältesten, trotz des Flehens der Mutter um Gnade für ihn, töten. Die schwört Rache: „Ich will sie alle morden mit der Zeit.“ Und bald hat sie Gelegenheit dazu. Denn Titus versäumt es, sich selbst zum Herrscher des Landes wählen zu lassen, vielmehr unterstützt er loyal die Wahl von Saturnin, dem ältesten Sohn des verstorbenen Kaisers, einem Emporkömmling voller Missgunst und Ränkespiele, der die Gotenkönigin Tamora zur Kaiserin macht und ihr damit alle Möglichkeiten zur Rache in die Hände legt.

Wie ein „Tragödien-Uhrwerk“ läuft das gegenseitige Morden ab. Tamoras Söhne vergewaltigen Titus´ Tochter Lavinia, hacken ihr die Arme ab und reißen ihr die Zunge heraus. Titus schlägt zurück. Er tötet den Geliebten der Kaiserin, einen Mohren, der, bevor er stirbt, den Namen der Vergewaltiger Lavinias verrät. Der eine muss fliehen, der andere wird niedergestochen. Schließlich endet alles in einer übersteigerten Scheußlichkeits-Szene: Titus tischt Tamora die Fleischstücke ihres Sohnes als Mahl auf und erdolcht sie dann. Das Schlussbild zeigt im Hintergrund diese makabre Tafelszene. Rechts von der Decke hängt der blutige Rumpf eines der Getöteten herab. Links im Türrahmen sieht man den schlaffen Körper von Lavinia, die sich erhängt hat.

Das Stück zeigt Krieg als Familientragödie, als Morden der engsten Angehörigen, Menschen als skrupellose Vergötterer von Macht und Eigeninteressen. Unbarmherzig führt es die Absurdität von Kriegsheldentum vor. Titus Andronicus (Thomas Streibig in einer beeindruckenden Rolle) glaubt den religiösen Sitten und Gebräuchen zu entsprechen und sieht nicht, dass die Hinrichtungen, die er befiehlt, mörderische Willkürakte sind. Zu spät erkennt er, dass er an Lavinias schrecklichem Schicksal, an ihrer körperlichen wie seelischen Verstümmelung, mitschuldig ist. Als es ihm bewusst wird, ist er zu keinem anderen Wort als „Rache“ fähig und schürt Gewalt und Grausamkeit, anstatt diesen schlimmen Kreislauf zu durchbrechen. Saturnin (Sascha Oliver Bauer) ist ein listenreicher Ränkespieler und skrupelloser Mächtiger, der Staat für ihn nichts als Spielball seiner Herrschaftsinteressen. Ihm in den Schandtaten ebenbürtig und sogar überlegen: Tamora, die Gotenkönigin, überzeugend verkörpert von Uta Eisold, mit dem Mohren Aaron (Jochen Nötzelmann) als Liebhaber und Mordgehilfen an ihrer Seite. Die einzige, die aus diesem Netzwerk von Gewalt und skrupelloser Gerissenheit herausfällt, ist Lavinia. Sie ist das Opfer und – Regisseur David Gerlach geht da bis an die Grenze der Zumutbarkeit – wird nach ihrer Vergewaltigung dem Publikum als blutüberströmter, halb verstümmelter Körper an der Bühnenrampe wie zur Schau präsentiert. Dass diese Szene ihren Schrecken behält und nicht lächerlich wird, ist auch dem eindringlichen Spiel von Franziska Knetsch zu danken.

David Gerlach gelingen mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern Szenen, die das Grauen der Gewalt aufzeigen, aber auch den Zuschauer in die Lage versetzen, die Grausamkeiten auf der metallisch grau ausgeleuchteten Bühne mit ihren Fallgruben und gefängnishaften Gittern und Toren als Beobachter kritisch und distanziert zu verfolgen. So lässt er zwischen den einzelnen Bildern eine Musik aus Disharmonien und dissonanten Klängen spielen, die, obgleich wie eine Fortsetzung des Bühnengeschehens wirkend, dieses auch verfremdet und davon ablenkt. Wie bei Strauß angelegt, unterbricht Gerlach immer wieder die Handlung und blendet kurze Filmstreifen ein, in denen die Spielerinnen und Spieler in völlig anderen Umgebungen, in einem Bus etwa oder in einem Schwimmbad oder einer Kneipe, zu ihren Rollen Statements abgeben. Leider waren diese wichtigen Einschübe sprachlich nicht gut zu verstehen. Das Bühnengemetzel wird dadurch immer wieder vom Zuschauer weggerückt und auf eine andere Betrachterebene gehoben. Besonders verfremdend wirkt die Rahmenhandlung, in die Gerlach seine Inszenierung (Dramaturgie: Jürgen Sachs) stellt. Die Aufführung beginnt mit einem Ausrufer, der für den Ankauf von neuem Wohnland wirbt. „Terra secura“ lautet sein Slogan, während sich im Hintergrund bereits die Wand öffnet und die künftigen Schlächter und Opfer einer längst vergangenen und dennoch bedrohlich nahen Epoche als groteskes Gruppenbild präsentiert. Eine Frau mit einem Jungen erscheint: vielleicht potentielle Käufer oder Touristen der „terra secura“. Das Schlussbild knüpft an diesen Anfang an. Der Junge steht am Bühnenrand, hängt sich einen weißen Umhang um und ruft sich – Spiel? bitterer Ernst? – zum nächsten Kaiser aus. Er jedenfalls hat aus den Morden und dem Töten auf der Bühne hinter ihm nichts gelernt. „Die Welt geht rund und sie macht sich nichts draus.“

Alles, vieles ist verkehrt in Shakespeares großer Liebeskomödie Was Ihr wollt, so wie es die Riesenbuchstaben in Spiegelschrift andeuten, die sich in der zweiten Inszenierung des Abends wie ein Vorhang über die Bühne ziehen. Orsino liebt Olivia oder glaubt sie zu lieben, denn wirklich verliebt gibt er sich nicht, schickt nur einen Boten zu der Angebeteten. Die liebt den Boten, oder glaubt ihn zu lieben, denn eigentlich liebt sie seinen Zwillingsbruder Sebastian. Und Malvolio, Olivias Haushofmeister, glaubt von seiner Herrin geliebt zu werden und sitzt in Wirklichkeit nur einem bösen Streich auf. Nur Orsinos Liebesbote Viola weiß genau, dass sie in den Richtigen, nämlich Orsino, verliebt ist, kann das aber nicht offen zeigen, weil sie sich als Mann verkleidet hat und unter einem falschen Namen auftritt. Durch ihn / sie erst, als Fremdling bei einem Schiffsunglück an Land gespült und gerettet, gerät alles so heillos durcheinander, dass die Komödie fast in einem unauflösbaren Possenknäuel endete, wenn sich nicht durch das Auftauchen des richtigen Zwillingsbruders alles, oder wenigstens das meiste, zu einem glücklichen Liebesende auflösen würde.

Regisseur Radestock gelingt mit einem Ensemble, das durch Spielfreude und schauspielerisches Können besticht, eine überzeugende, in sich geschlossene Aufführung des Stücks. Er legt den Akzent auf die Verwirr- und Verwechslungskomödie. Alles in Was Ihr wollt, so Radestocks durchaus nachvollziehbare Inszenierungsentscheidung, ist Schein, Spiel, Posse, Streich; überall – und der Zuschauer weiß das von Beginn an – lauert eine Grube, in die die Figuren mit ihren falschen Gefühlen und trügerischen Hoffnungen hineinfallen, in der sie straucheln können. Indem die großen Gefühle und Gesten der Liebe in der Aufführung als komisch entlarvt werden, wird die wahre Liebe – am Ende wird es angedeutet – „gerettet“, das Leben selbst aber über weite Strecken als trügerisch, als Farce eben, und die Menschen als puppenhafte Gecken vorgeführt.

Das Risiko einer solchen Inszenierung ist der Absturz der Aufführung in das Klamottenhaft-Komische. Radestock vermeidet das, indem er „dicht“ inszeniert – nichts, was auf der Bühne geschieht, ist bedeutungslos, alles wird miteinander verwoben und verzahnt – und allen komischen Szenen etwas Lockeres und Leichtes gibt. Die Derbheit eines Sir Toby wird nicht allzu selbstgefällig ausgespielt und die Sprechweise eines Sir Andrew voller Einfältigkeit und Dummheit verbreitet Heiterkeit, ohne penetrant zu wirken. Und das klischeehafte Agieren der Figuren als Dienstmädchen oder Trunkenbold oder Geck oder liebeshungrige Olivia ist eine komische Überzeichnung, die das Stück – und ein wenig selbstironisches Augenzwinkern auf Seiten des Regisseurs ist sicherlich dabei – in eine lange Tradition von Aufführungen dieser Art einreiht. Dazu passen die bunten Kostüme und geschminkten Gesichter der Figuren. Zusammen mit puppenhaft gespreizten Gesten und uhrwerkhaft choreographierten Bewegungen verstärken sie das Unwirkliche und manchmal Traumhaft-Komische des Spiels.

Die allgemeine Heiterkeit der Aufführung schlägt am Ende fast in das Gegenteil um. Olivias Haushofmeister sieht, dass er auf einen Streich, der ihn bloßgestellt hat, hereingefallen ist. Wie einer aus einer anderen Welt, in gelben Strümpfen mit Bändern verschnürt, steht er inmitten des Liebesglücks, das aus dem Land, in dem die Liebe keine Chance zu haben schien, endlich wirklich Illyrien gemacht hat, stolpert von der Bühne und schwört Rache. Aber da setzt bereits das Lied des Narren ein: „But that´s all one, our play is done, / And we´ll strive to please you every day.“

Herbert Fuchs



Gießener Allgemeine Zeitung

Lohnender Theaterabend der Gegensätze
Doppelpremiere in Marburg: »Schändung« von Botho Strauß und »Was ihr wollt« von Shakespeare

Mut zum Risiko beweist das Hessische Landestheater einmal mehr zur Spielzeiteröffnung in Marburg. Mit einer Shakespeare-Doppelpremiere fordert es sein Publikum in der Stadthalle zu einem kontroversen, sechsstündigen (mit Pausen) Theaterabend heraus, der im ersten Teil die Grenzen des Zumutbaren auslotet, dann aber mit dem zweiten Stück die Ausdauer der Zuschauer mit einer temporeichen Komödie reichlich belohnt. David Gerlach, schon länger dem Haus als Regisseur und Schauspieler verbunden, hat in diesem Herbst offiziell die Position des Oberspielleiters übernommen – und er hat sich für sein Debüt in diesem Amt wahrlich kein leichtes Thema ausgesucht. Mit seiner Wahl des Titus-Andronicus-Stoffes in der Bearbeitung von Botho Strauß nimmt er sich der unbequemen Auseinandersetzung mit Vergewaltigung, Verstümmelung und Gewalt in Zeiten des Krieges über weite Strecken intelligent und unnachgiebig an – und wird damit nicht unmittelbar den Nerv des breiten Publikumgeschmacks treffen. Geschändet wird in diesem gnadenlosen Spiel um Macht und Vorherrschaft Lavinia, die Tochter des siegreichen Feldherrn Titus Andronicus, der in ein Rom des Zerfalls und der Dekadenz zurückgekehrt ist. Von zwei unreifen Sprösslingen der Gotenkönigin Tamora wird sie nicht nur brutal vergewaltigt, sie schneiden ihr auch noch Zunge und Hände ab, damit sie die Täter nicht verraten kann. Gerlach zeigt diesen Gewaltakt nicht in allen Details, dafür aber in seinen unübersehbaren Folgen. Und er bedient sich eines Tricks: Zwischen den Szenen blendet er kurze Videoaufnahmen ein, in denen die Schauspieler ihren Rollenansatz erklären. Was bis dahin schlüssig wirkt, gerät in der letzten Einspielung aus den Fugen. Die unappetitliche Verwurstung eines Schänders hätte der Regisseur seinem Publikum getrost ersparen und hier mehr auf die Vorstellungskraft der Zuschauer vertrauen können. Gewalt findet auch im Kopf statt. Im grauen, metallisch schimmernden Einheitsbühnenbild von Andreas Rank – die nach vorne zu einem Dreieck zugespitzte Schräge findet auch in der zweiten Produktion ihre Verwendung – können sich rollengemäß vor allem Franziska Knetsch und Thomas Streibig stark profilieren. Knetsch lässt den Schock und die Sprachlosigkeit Lavinias spüren, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Streibig rettet sich als ihr hilfloser Vater in martialische Attitüden, im Stechschritt marschiert er rastlos über die Bühne, hackt sich seine Wut mit der Spaltaxt aus dem Leibe. Uta Eisold ringt mit dem intriganten Wesen der Gotenkönigin Tamora. Gleich zwei Männer sind ihr verfallen: Sascha Oliver Bauer als schwächlicher, formbarer Kaiser und Jochen Nötzelmann als ihr durchtriebener, muskulöser Liebhaber Aaron.

»Was ihr wollt« steht in bunter Spiegelschrift nach einer knapp einstündigen Erholungsphase auf dem Gaze-Vorhang geschrieben – und Peter Radestock, bis zum Sommer langjähriger Oberspielleiter in Marburg, verwöhnt die nach der Pause zahlreicher erschienenen Gäste mit einer turbulenten Inszenierung, in der Tempo, Timing und Trommelwirbel aufs Beste abgestimmt sind. Durchweg ausgezeichnet disponiert präsentiert sich hier ein neunköpfiges, überaus spielfreudiges Ensembles, das – auch dank der schrillen Kostüme von Andreas Rank – spaßbringenden Mut zur skurrilen Überzeichnung ihrer Figuren beweist. Sie scheinen dem Zeichenstift Wilhelm Buschs entsprungen zu sein, diese Witzfiguren am Hofe der exaltierten Gräfin Olivia (Regina Leitner mit Domina-Allüren). So erinnert Christine Reinhardt in ihrem herrlich direkten Spiel an die Witwe Bolte, die ihre außer Rand und Band geratenen Mannen am liebsten an den Ohren ziehen würde. Dabei hat sie eigentlich den Höllenunfug angerichtet durch den gefälschten Liebesbrief, dem Markus Klauk als gespreizter Haushofmeister Malvolio so dankbar zum Opfer fällt. Sie sind schon ein köstliches Gespann: allen vorweg Stefan Gille als näselnder, stets eine Spur beleidigter Bleichenwang in absoluter Hochform, effektvoll unterstützt von Jürgen Helmut Keuchel als ständig betrunkener Sir Toby Rülps, zu denen sich Stefan Piskorz als behender Clown und Narr gesellt, der seine Weisheiten so flink formuliert, dass es einem schwarz vor Augen werden kann. Bei soviel Witz stehen die feinen Herrschaften ganz schön blöd dar – und wissen am Ende nicht mehr, ob sie Männlein oder Weiblein sind. Schuld an diesem heillosen Durcheinander ist ein Geschwisterpaar: Franziska Endres bewährt sich bestens in ihrer Hosenrolle als Viola/Cesario, und Florian Federl gibt hier sein überzeugendes Marburg-Debüt als Zwillingsbruder Sebastian. Gestrandet sind die beiden im Phantasiereich Illyrien – »dieses Land ist eine offene Anstalt«, meint der Narr –, in dem Peter Meyer als liebeskranker Herzog Orsino herrscht: Guildo Horn lässt schön grüßen!

Marion Schwarzmann



Marburger Neue Zeitung 16.10.2007

Racherausch trifft auf Liebesreigen
Doppelpremiere eröffnet die Spielzeit

Marburg (bep). Mit einem Theater-Marathon von viereinhalb Stunden ist am Samstag die neue Spielzeit eröffnet worden. Mit einer Doppelpremiere brachte das Ensemble des Hessischen Landestheaters Marburg „Schändung“ von Botho Strauß und „Was ihr wollt“ von William Shakespeare auf die Bühne. Die Plätze in der Stadthalle waren zunächst nur zu zwei Dritteln besetzt, zur zweiten Aufführung kamen etwas mehr Zuschauer.

Graue, kahle Wände. Triste Fensterhöhlen. Eine kalte Fabrikhalle. Der einsame Held Titus Andronicus, hervorragend dargestellt von Thomas Streibig, kehrt nach dem Sieg über die Goten heim und findet Rom im Chaos vor. Tatenlos muss er zusehen, wie seine Todfeindin, die ruchlose Gotenkönigin Tamora, den jungen Kaiser Saturnin umgarnt, ihn schließlich heiratet und an die Macht gelangt. Nach dem Ritus muss zunächst ein Menschenopfer gebracht werden, um die Götter nach der Schlacht zu besänftigen. Titus, der selbst im Kampf 25 Söhne verloren hat, wählt den Sohn der Gotenkönigin und lässt ihn ermorden. So nimmt die Tragödie ihren Lauf. Tamora, sehr überzeugend gespielt von Uta Eisold, schmiedet zusammen mit ihrem Geliebten einen schrecklichen Racheplan: Sie lässt Lavinia, die Tochter des Titus, entführen. Tamoras Söhne vollziehen die Schändung, vergewaltigen das Mädchen und schneiden ihr die Zunge heraus. Es kommt, wie es kommen muss: Titus sinnt wiederum auf Rache und lässt die Vergewaltiger seiner Tochter umbringen. Seinen Triumph erlebt er in einem Mahl mit der Gotenkönigin, bei dem sie unwissentlich das Fleisch ihrer Söhne verspeist. Es fließt viel Blut in dem Stück von Botho Strauß, es wird gemordet und verstümmelt. David Gerlach hat in der beeindruckenden Inszenierung der Tragödie, die auf Shakespeares „Titus Andronicus“ basiert, gezeigt, dass nur eine dünne Schicht der Zivilisation den barbarischen Kern im Menschen verdeckt. Einmal freigelegt, setzt dieser eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang, ein Gedanke, der sicherlich auch heute noch Aktualität hat. In der einstündigen Pause konnten die Zuschauer im Foyer flanieren und in entspannter Atmosphäre den Sonetten von Shakespeare, vorgetragen von Jochen Nötzelmann und Bastian Michael, lauschen. Viele entschieden sich auch dafür, im Restaurant der Stadthalle einen „Shakespeare-Teller“ zu sich zu nehmen. Erfrischend heiter ging es dann mit „Was ihr wollt“ weiter. Die witzig-spritzige Inszenierung zog die Zuschauer sogleich in ihren Bann. Die um 1600 entstandene Komödie spielt im sagenhaften Illyrien, dem Land der Verliebten, der Traümer und Narren. Die schöne Viola landet in Illyrien und tritt, verkleidet als Cesario, in den Dienst von Herzog Orsino. Sie verliebt sich sofort in den stattlichen Mann, der wiederum unsterblich in die Gräfin Olivia verliebt ist. Die attraktive Olivia, hervorragend verkörpert von Regina Leitner, erwidert seine Liebe aber nicht, sondern verguckt sich sofort in den jungen Cesario, der als Liebesbote bei ihr antritt. Ein amüsanter Reigen von Verwechslungen Verwicklungen beginnt. Sehr kurzweilig sind auch die Szenen der Nebenhandlung. Der eitle Haushofmeister Malvolio (herrlich überdreht: Markus Klauk) wird Opfer der Streiche des dicken Sir Toby Rülps und seines langsamen Freundes Sir Andrew Bleichenwang. Die Komödie endet in einem fröhlichen Happy-End, bei dem jeder sein Glück findet. Insgesamt war es ein Theaterabend der Gegensätze: hier die düster-tiefsinnige Rachetragödie von Strauß, dort die locker-leichte Verwechslungskomödie von Shakespeare. Dass die Zuschauer voll auf ihre Kosten kamen, lag an den überzeugenden Inszenierungen und den ausgezeichneten Darstellern.



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